Bausteine zu einer Theorie historischer Zeiten

Marcus Sandl

SFB 485: Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration
Universität Konstanz

Harald Tausch

SFB 434: Erinnerungskulturen
Universität Gießen

Abstract
Im Schatten der die letzten Jahrzehnte beherrschenden sozialwissenschaftlich-analytischen Ansätze einerseits, der jüngeren dekonstruktivistischen Debatte in den Kulturwissenschaften andererseits wurden seit den siebziger Jahren Grundideen zu einer Theorie historischer Zeiten formuliert. Herausragend sind insbesondere Reinhard Kosellecks Beiträge zu diesem Thema. Nachdrücklich wies Koselleck dabei darauf hin, daß die historisch arbeitenden Wissenschaften sich über die historischen Bedingungen ihrer Erkenntnisbildung Rechenschaft abzulegen hätten. Dabei verstand er diese Rechenschaftspflicht als ein Verfahren, die eigenen Erkenntnisbedingungen historisch zu durchleuchten. Demnach gibt es mindestens zwei Zeitebenen, mit denen der historisch arbeitende Kulturwissenschaftler konfrontiert ist: zum einen mit der Zeit seines Gegenstandes als eines historisch konstituierten, 'geschichtlichen Phänomens', zum anderen jedoch auch mit der Zeit der eigenen Erkenntnisvoraussetzungen und ­methoden. Letztere sind das Ergebnis eines langandauernden Wandlungsprozesses der Zeitwahrnehmung, der seine Achsenzeit im 18. Jahrhundert besitzt und mit der Vorstellung von der einen, umfassenden 'Geschichte' im Kollektivsingular korrespondiert. Kosellecks Arbeiten ergeben sich zum großen Teil aus dem Interesse an der Verbindung der beiden Zeitebenen im Erkenntnisprozeß. Der zeitliche Schwerpunkt seiner Studien liegt nicht von ungefähr auf der Übergangsphase von der Vormoderne zur Moderne und ihren Beschleunigungsprozessen. Daneben interessieren ihn jedoch auch die gewissermaßen anthropologischen Grundmuster geschichtlicher Zeiten: Das Verhältnis von Einmaligkeit, Kontinuität und Wiederholung als Voraussetzung jeder Zeiterfahrung. Kosellecks Beiträge zu einer Theorie geschichtlicher Zeiten erscheinen angesichts der gegenwärtigen Polarisierung in der Theoriediskussion ein geeigneter Ansatzpunkt für eine methodischtheoretische Selbstbesinnung. Angestrebt wird vor diesem Hintergrund, Perspektiven einer Erweiterung dieser theoretischen Überlegungen aus literatur und geschichtswissenschaftlicher Sicht zu diskutieren. Dabei kann sowohl an Kosellecks Beiträge zu den zwei Zeitebenen angeschlossen werden, als auch an die von ihm aufgezeigten anthropologischen Dimensionen geschichtlicher Erfahrung. Fokus dieser Überlegungen ist letztlich die Entwicklung eines historisierenden Verfahrens, das es erlaubt, den historisch Erkennenden in den Erkenntnisprozeß hinein zu vermitteln. Es ist also nicht beabsichtigt, eine weitere Metatheorie historischer Erkenntnis zu formulieren, sondern Möglichkeiten eines reflektierten Historismus¹, um noch einmal Koselleck zu zitieren, an Beispielen zu erproben.


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