Die menschliche Sprachkompetenz, die nach der These des Sonderforschungsbereichs
538 Mehrsprachigkeit mehrsprachig angelegt ist, manifestiert sich in Text und
Diskurs, in der individuellen Entwicklung und in historischen Prozessen des
Sprachwandels. In dem linguistischen SFB gehen die Forschungsvorhaben dabei entweder
von einem generativ orientierten Forschungsansatz, der sich abkürzend als
konstruktivistisch-empirisch (ke) charakterisieren läßt, aus oder von einem
sprachfunktional orientierten, der als rekonstruktiv-empirisch (re) zu
charakterisieren ist. An folgenden Problemfeldern ergeben sich unterschiedliche
oder gemeinsame Wege:
In jedem Projekt wird ein Untersuchungskorpus von Sprach- und
Videoaufzeichnungen bzw. von Texten bereitgestellt; in einigen Fällen werden
Interviews durchgeführt. Das resultierende Material führt zu mehrsprachigen
Einzelkorpora, die aber unterschiedlichen Anforderungen der
"Authentizität" und auch der technischen Reproduktion genügen.
Die Darstellung der Daten hinsichtlich Transliteration, Transkription,
Interlinearübersetzung usw. ist projektspezifisch abhängig von der Entfernung der
jeweils untersuchten Objektsprache (z.B. Griechisch, Japanisch, Türkisch, vs.
romanische und germanische Sprachen) zur Metasprache (Deutsch, Englisch,
Französisch, Spanisch, Dänisch u.ä.). Die Selektion der Daten richtet sich allerdings
auch nach dem Forschungsansatz (ke vs. re).
Die Herausarbeitung einzelsprachspezifischer und mehrsprachiger Sprach- und
Kommunikationsstrukturen einschl. der jeweiligen Varietät der Einzelsprache ist
gemeinsam. Unterschiedlich sind die Untersuchungskategorien wie generative Syntax-
und Phonologiekategorien (ke) vs. text- und diskursfunktionale der satzinternen
und der äußerungsübergreifenden Ebene (re).
Die Frage nach der Finalisierung mehrsprachiger Strukturen und deren
methodologischer Erfassung wird unterschiedlich beantwortet: Im
rekonstruktiv-empirischen Forschungsansatz werden Text, Diskurs und Schriftlichkeit
im Zusammenhang mit der jeweiligen gesellschaftlichen Rolle gesehen, wobei sich
grundsätzlich die Frage nach den Funktionen (Zwecken) der eingesetzten sprachlichen
Formen stellt. Im konstruktivistisch-empirischen Forschungsansatz wird bei
individueller Mehrsprachigkeit die kognitiv-mentale Entwicklung nach
syntaktisch-phonologischem Regelerwerb erfaßt. Von beiden Anätzen unterschiedlich
wird die historische Mehrsprachigkeit als Übernahme, Integration und Wandel eines
Sprachsystems unter dem Einfluß eines anderen modelliert.
Methodologische Bedeutung haben Verfahren der Kontrastivierung von Sprachen,
und zwar bei individueller Mehrsprachigkeit und bei gesellschaftlicher
Mehrsprachigkeit. Dabei werden die Kriterien der Parameter vs.
universaler/einzelsprachlicher Prozeduren verwendet.
Bei der Betrachtung der individuellen kognitiv-mentalen Repräsentation mehrerer
Sprachen ist die longitudinale Ausrichtung auf den Erwerb gemeinsam. Unterschiedlich
sind u.a. die sprachlichen Domänen: phonologisch, morphosyntaktisch (ke) vs.
diskursanalytisch (re). Konvergent ist die Frage nach internen Mechanismen der
Verarbeitung der sprachlichen Einheiten und ihr Zusammenhang mit gesellschaftlichen
Dimensionen.
Die Modellierung mehrsprachiger Kompetenz geschieht nach generativen Kategorien
und Prinzipien (ke) vs. nach funktional zu bestimmenden Strukturen und deren internem
Aufbau (re). Gemeinsam für Spracherzeugung einerseits (ke) und sprachliche
Kommunikation (re) andererseits ist die Annahme einer Tiefenstruktur, in der sich
die Vermittlung der unterschiedlichen Sprachen vollzieht; so insbesondere bei der
Vermittlung zweier (oder mehr) vollausgebauter sprachlicher Kompetenzen etwa beim
Dolmetschen und Übersetzen.
Für die Analyseverfahren zahlreicher Projekte, in denen die Praxis von
Mehrsprachigkeit untersucht wird, ist eine Sprachdatenbank nützlich. Mit Hilfe
eines mehrsprachigen Korpus, das den verschiedenen Projekten durch eine Reihe
intelligenter Routinen zugänglich wird, lassen sich Korrelationen zwischen
Strukturen unterschiedlichen Typs und sprachlichen Realisierungsformen, aber auch
zwischen sprachlichen Elementen von Konstellationen, deren Varietät, ihres Erwerbs
sowie den Ausformungen von Diskursen und Texten verschiedener Sprachen wesentlich
deutlicher erkennen. Hier ergibt sich der Anschluß an quantifizierende Analysen.
Selbstverständlich ist eine mehrsprachige Datenbank auch für Studien mit experimentell
erhobenen Sprachdaten ein nützliches Werkzeug der Auswertung.
Insgesamt wird in dem SFB 538 versucht, kein vorgeformtes Kategorienraster an
die Daten heranzutragen, sondern eine schlüssige Interpretation der empirisch
erhobenen sprachlichen Formen nach dem jeweiligen theoretischen Sprachmodell zu
erarbeiten und aus letzterem heraus die Fragen nach zugrundeliegenden sprachlichen
und kognitiv-mentalen Strukturen in individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen
im Spektrum mehrerer Sprachen zu beantworten.