Methodologische Fragen bei der Analyse von Mehrsprachigkeit

Jochen Rehbein

SFB 538: Mehrsprachigkeit
Universität Hamburg

Abstract
Die menschliche Sprachkompetenz, die nach der These des Sonderforschungsbereichs 538 Mehrsprachigkeit mehrsprachig angelegt ist, manifestiert sich in Text und Diskurs, in der individuellen Entwicklung und in historischen Prozessen des Sprachwandels. In dem linguistischen SFB gehen die Forschungsvorhaben dabei entweder von einem generativ orientierten Forschungsansatz, der sich abkürzend als konstruktivistisch-empirisch (ke) charakterisieren läßt, aus oder von einem sprachfunktional orientierten, der als rekonstruktiv-empirisch (re) zu charakterisieren ist. ­ An folgenden Problemfeldern ergeben sich unterschiedliche oder gemeinsame Wege:

  1. In jedem Projekt wird ein Untersuchungskorpus von Sprach- und Videoaufzeichnungen bzw. von Texten bereitgestellt; in einigen Fällen werden Interviews durchgeführt. Das resultierende Material führt zu mehrsprachigen Einzelkorpora, die aber unterschiedlichen Anforderungen der "Authentizität" und auch der technischen Reproduktion genügen.
  2. Die Darstellung der Daten hinsichtlich Transliteration, Transkription, Interlinearübersetzung usw. ist projektspezifisch abhängig von der Entfernung der jeweils untersuchten Objektsprache (z.B. Griechisch, Japanisch, Türkisch, vs. romanische und germanische Sprachen) zur Metasprache (Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Dänisch u.ä.). Die Selektion der Daten richtet sich allerdings auch nach dem Forschungsansatz (ke vs. re).
  3. Die Herausarbeitung einzelsprachspezifischer und mehrsprachiger Sprach- und Kommunikationsstrukturen einschl. der jeweiligen Varietät der Einzelsprache ist gemeinsam. Unterschiedlich sind die Untersuchungskategorien wie generative Syntax- und Phonologiekategorien (ke) vs. text- und diskursfunktionale der satzinternen und der äußerungsübergreifenden Ebene (re).
  4. Die Frage nach der Finalisierung mehrsprachiger Strukturen und deren methodologischer Erfassung wird unterschiedlich beantwortet: Im rekonstruktiv-empirischen Forschungsansatz werden Text, Diskurs und Schriftlichkeit im Zusammenhang mit der jeweiligen gesellschaftlichen Rolle gesehen, wobei sich grundsätzlich die Frage nach den Funktionen (Zwecken) der eingesetzten sprachlichen Formen stellt. Im konstruktivistisch-empirischen Forschungsansatz wird bei individueller Mehrsprachigkeit die kognitiv-mentale Entwicklung nach syntaktisch-phonologischem Regelerwerb erfaßt. Von beiden Anätzen unterschiedlich wird die historische Mehrsprachigkeit als Übernahme, Integration und Wandel eines Sprachsystems unter dem Einfluß eines anderen modelliert.
  5. Methodologische Bedeutung haben Verfahren der Kontrastivierung von Sprachen, und zwar bei individueller Mehrsprachigkeit und bei gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit. Dabei werden die Kriterien der Parameter vs. universaler/einzelsprachlicher Prozeduren verwendet.
  6. Bei der Betrachtung der individuellen kognitiv-mentalen Repräsentation mehrerer Sprachen ist die longitudinale Ausrichtung auf den Erwerb gemeinsam. Unterschiedlich sind u.a. die sprachlichen Domänen: phonologisch, morphosyntaktisch (ke) vs. diskursanalytisch (re). Konvergent ist die Frage nach internen Mechanismen der Verarbeitung der sprachlichen Einheiten und ihr Zusammenhang mit gesellschaftlichen Dimensionen.
  7. Die Modellierung mehrsprachiger Kompetenz geschieht nach generativen Kategorien und Prinzipien (ke) vs. nach funktional zu bestimmenden Strukturen und deren internem Aufbau (re). Gemeinsam für Spracherzeugung einerseits (ke) und sprachliche Kommunikation (re) andererseits ist die Annahme einer Tiefenstruktur, in der sich die Vermittlung der unterschiedlichen Sprachen vollzieht; so insbesondere bei der Vermittlung zweier (oder mehr) vollausgebauter sprachlicher Kompetenzen etwa beim Dolmetschen und Übersetzen.
  8. Für die Analyseverfahren zahlreicher Projekte, in denen die Praxis von Mehrsprachigkeit untersucht wird, ist eine Sprachdatenbank nützlich. Mit Hilfe eines mehrsprachigen Korpus, das den verschiedenen Projekten durch eine Reihe intelligenter Routinen zugänglich wird, lassen sich Korrelationen zwischen Strukturen unterschiedlichen Typs und sprachlichen Realisierungsformen, aber auch zwischen sprachlichen Elementen von Konstellationen, deren Varietät, ihres Erwerbs sowie den Ausformungen von Diskursen und Texten verschiedener Sprachen wesentlich deutlicher erkennen. Hier ergibt sich der Anschluß an quantifizierende Analysen. Selbstverständlich ist eine mehrsprachige Datenbank auch für Studien mit experimentell erhobenen Sprachdaten ein nützliches Werkzeug der Auswertung.
  9. Insgesamt wird in dem SFB 538 versucht, kein vorgeformtes Kategorienraster an die Daten heranzutragen, sondern eine schlüssige Interpretation der empirisch erhobenen sprachlichen Formen nach dem jeweiligen theoretischen Sprachmodell zu erarbeiten und aus letzterem heraus die Fragen nach zugrundeliegenden sprachlichen und kognitiv-mentalen Strukturen in individuellen und gesellschaftlichen Dimensionen im Spektrum mehrerer Sprachen zu beantworten.


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