"Verstehst Du mich alle?" - Eine Untersuchung zum freien Schreiben Hörgeschädigter

Sandra Lintz

RWTH Aachen, Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft

Montag, 08.12.2003, 16 Uhr c.t., Hörsaal 9
In unserer Gesellschaft werden Wissen und Informationen vielfach über Schrift vermittelt. Hörgeschädigten ist es häufig nicht möglich, an diesem Austausch teilzuhaben, denn viele Gehörlose in Deutschland haben ein Schriftsprachkompetenzniveau, das deutlich unter dem Hörender liegt [6]. Dies hängt sowohl mit der Hörschädigung als auch mit der besonderen Spracherwerbs- und Bildungssituation Hörgeschädigter zusammen.
Die meisten hörgeschädigten Kinder haben hörende Eltern und kommen erst sehr spät mit der Gebärdensprache in Berührung. Da ein natürlicher Lautspracherwerb nicht möglich ist, haben diese Kinder bei Schuleintritt weder altersangemessene Kompetenz in Laut- noch in Gebärdensprache. Nur ca. 10% der Gehörlosen haben gehörlose Eltern und wachsen mit der Gebärdensprache als Muttersprache auf. In den Schulen wird fast ausschließlich nach der oralen Methode, das heißt rein laut-sprachlich, unterrichtet. Viele Inhalte werden deshalb von den Schülern nur schwer verstanden [5]. Es gibt kein Unterrichtsfach, in dem Gebärdensprache unterrichtet wird.

Im Vortrag werden Forschungsergebnisse internationaler Studien zur Schriftsprachkompetenz Hörgeschädigter vorgestellt [1-4] sowie die ersten Ergebnisse einer Untersuchung, die im Rahmen einer Doktorarbeit in Aachen durchgeführt wird. In dieser Studie werden von Hörgeschädigten verfasste Briefe mittels einer deskriptiven linguistischen Analyse ausgewertet; alle orthographischen, morphologischen und syntaktischen Besonderheiten sowie Besonderheiten im Wortschatz werden erfasst.
Die ersten Ergebnisse zeigen, dass Normabweichungen auf verschiedene Einflussvariablen zurückgeführt werden können. Die Probleme Hörgeschädigter mit der Schrift rühren aber in erster Linie von mangelnder Ausbildung und von der Hörschädigung als solcher her. Interferenzen aus der Gebärdensprache treten häufiger bei Gehörlosen mit gehörlosen Eltern auf, verschwinden aber mit steigender Schriftsprachkompetenz. Ein früher Erwerb der Gebärdensprache fördert die Fertigkeiten, kohäsive Elemente sinnvoll einzusetzen und wirkt sich insgesamt nicht nachteilig auf Schriftsprachkompetenz aus.

Literatur
[1] Fabbretti, Daniela, Virginia Volterra & Clotilde Pontecorvo: Written language abilities in Deaf Italians. In: Journal of Deaf Studies and Deaf Education 3 (3) 1998, 231-244
[2] Günther, Klaus-B. & Eveline George: Aspekte des Schriftspracherwerbs bei bilingual erzogenen gehörlosen Kindern mit einer manuellen Basissprache. In: Weingarten, Rüdiger & Hartmut Günther (Hrsg.): Schriftspracherwerb. Baltmannsweiler 1998, 182-204
[3] Krausmann, Beate: 'anders, nicht selten sehr eigenwillig'. Schriftsprachliche Kommunikation erwachsener Gehörloser zwischen Normverstößen und Selbstbewußtsein (Teil I und II). In: Das Zeichen 46/1998, 581-590 und DZ 47/1999, 68-75
[4] Taeschner, T., Devescovi, A. & V. Volterra: Affixes and function words in the written language of deaf children. In: Applied Psycholinguistics 9 1988, 385-401
[5] Wisch, F.-H.: Lautsprache UND Gebärdensprache. Die Wende zur Zweisprachigkeit in Erziehung und Bildung Gehörloser (Internationale Arbeiten zur Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser, Bd. 17). Hamburg 1990
[6] Wudtke, Hubert: Schriftspracherwerb: Schreibentwicklungen gehörloser Kinder (Teil I bis III). In Das Zeichen 24/1993, 212-223 und in DZ 25/1993, 332-341 und mit Olaf Nett in DZ 26/1993, 462-470


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