Parallele Wortverarbeitung und Steuerung der Okulomotorik beim Lesen

Ralph Radach

Department of Psychology
Florida State University

Abstract
Die Frage, ob und inwieweit Informationsverarbeitungsprozesse seriell oder parallel verlaufen, ist eines der klassischen Themen der Kognitionspsychologie. In der experimentellen Leseforschung kann dieses Problem durch Untersuchungen zur zeitlichen Taktung der Wortverarbeitung innerhalb des funktionalen visuellen Feldes operationalisiert werden.

In einer aktuellen Serie von Experimenten wurde während der Fixation eines Zielwortes die visuelle Verfügbarkeit eines benachbarten Wortes durch zeitweise Maskierung manipuliert (Inhoff, Eiter & Radach, in press). Dabei zeigte sich, das bereits während der ersten 140 ms der Fixation auf dem Zielwort parafoveale Information vom nachfolgenden Wort aufgenommen werden kann. Damit ist nachgeweisen, dass sich beim Lesen eines Satzes die lexikalische Verarbeitung benachbarter Wörter zeitlich überlappt.

In Kooperation mit der Chulalongkorn University Bangkok untersuchen wir gegenwärtig Leseprozesse in Thai, einem alphabetischen Schriftsytem in dem Wörter nicht durch Leerzeichen getrennt werden. Analysen der räumlichen Verteilung der Landepositionen von Sakkaden legen den Schluss nahe, dass auch hier die Steuerung der Okulomotorik durch die Lage parafovealer Wortgrenzen bestimmt wird. Offenbar kann das Fehlen einer visuellen Segmentierung wenn nötig durch die orthographische Markierung von Wortübergängen kompensiert werden. Dabei muss die Bestimmung der kritischen Wortgrenzen in einer relativ frühen Phase der Wortverarbeitung erfolgen, wobei die Segmentierung eher Ergebnis als Voraussetzung des lexikalischen Zugriffs ist.

Die Ergebnisse aus beiden Untersuchsreihen sind unvereinbar mit der weit verbreiteten Vorstellung, dass sich nach Abschluss der lexikalischen Verarbeitung ein "Spotlight der Aufmerksamkeit" zum nächsten Wort bewegt (z.B. Reichle, Rayner & Pollatsek, 2003). Obwohl das Lesen im Prinzip ein sequentieller Prozess ist, werden Wörter innerhalb eines begrenzten visuellen Gradienten parallel verarbeitet. Die theoretische Bedeutung dieser Erkenntnis im Kontext der Entwicklung eines quantitativen Modells der Informationsverarbeitung beim Lesen wird diskutiert (Reilly & Radach, 2005).


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