Universität Bielefeld - Sonderforschungsbereich 360

Textverarbeitung
Von der Proposition zur Situation

Gert Rickheit & Hans Strohner

Einleitung

"The currency of psychology rises to the extent that discourse pychologists can improve reading, text design, complex learning, and social interaction." (Graesser, Millis & Zwaan, 1997, p. 164).
Jeden Tag setzen wir uns mit einer Fülle mündlicher oder schriftlicher Texte auseinander. Einige Beispiele solcher alltäglicher Texte sind Gespräche, Nachrichten, Briefe, Werbung und Gebrauchsanweisungen. Diese Liste müßte noch sehr viel länger sein, wenn man ein gewisses Maß an Vollständigkeit erreichen wollte. In den meisten Situationen des Alltags machen wir uns nicht sonderlich viel Gedanken, wie wir die in diesen Situationen enthaltenen Texte verarbeiten. Manchmal jedoch lenken wir unsere Aufmerksamkeit genauer auf diesen Aspekt, nämlich in Situationen, in denen Verständigungsprobleme auftreten oder zu befürchten sind. Dann wird uns bewußt, daß die Textverarbeitung ein sehr komplexer Gegenstand ist. Viele Menschen, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit häufig mit Texten umgehen, machen diese Erfahrung wiederholt und intensiv. Vor allem für sie kann die Psycholinguistik der Textverarbeitung einige fundamentale und auch spezifische Überlegungen und Befunde anbieten. Sie kann dazu beitragen, daß einerseits die Textproduzenten bei der Planung und dem Verfassen von Texten auf die Bedürfnisse der Textrepizienten besser eingehen und daß andererseits die Textrepizienten mit schwierigen Texten besser umgehen können.

Die moderne Psycholinguistik der Textverarbeitung entstand zu Beginn der siebziger Jahre aus der Einsicht heraus, daß Sprachverstehen eine komplexe konstruktive Handlung ist, bei der die sprachliche Information und das Vorwissen der Hörer oder Leser eng miteinander interagieren (Hörmann, 1976). Seit dieser Zeit ist die Psycholinguistik der Textverarbeitung zu einer interdisziplinären Wissenschaft herangewachsen, die ein spezifisches Praxisfeld und hervorragende Leistungen in Theorie und Methodologie aufzuweisen hat (Gernsbacher, 1994; Graesser, Millis & Zwaan, 1997).

Die Theorie der Textverarbeitungsforschung hat sich in Verbindung mit ihrer Empirie entwickelt. Es läßt sich innerhalb dieser voll in Gang befindlichen Entwicklung ein Trend von strukturell zu funktional orientieren Theorien erkennen. Dieser Trend hat zur Folge, daß immer mehr auch die dem Sprachverstehen übergeordnete Kommunikationssituation berücksichtigt wird. In vielen Studien hat sich gezeigt, daß die Textverarbeitung druch individuelle, gesellschaftliche, situative und mediale Faktoren stark beeinflußt werden kann (Clark, 1992, 1996). Im folgenden Überblick beleuchten wir einige dieser Entwicklungen und gehen zum Schluß auf einige ihrer Implikationen für die zukünftige Forschung ein.


Postscript-File (~93 k)
Anke Weinberger, 1997-07-23, 1998-01-08